Blender oder Wunderkind?

Xavier Dolans neuester Film MOMMY ist vielleicht sein bisher bester und wurde in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. Den nur 25-jährigen Frankokanadier umweht der Ruf eines Wunderkindes. Er schließt nun mit MOMMY thematisch an seinen Debütfilm vor 5 Jahren an. Zeit für ein Resümee: Was ist dran, an dem Wunderkind? 

MOMMY

MOMMY

Auch wenn es im österreichischen Feuilleton noch nicht so recht angekommen ist, hat sich Xavier Dolan in nur fünf Jahren mit fünf Filmen als fixe Größe im internationalen Autorenkino etabliert. Er ist zwar seit seinem Debütfilm ein Liebkind in Cannes, aber so richtig trauen wollte man dem Hype dann auch dieses Jahr noch nicht: Den Jury-Preis musste er sich mit Kino-Rentner Godard teilen. Damit ging der Preis gleichzeitig an den ältesten und den jüngsten Preisträger in der Geschichte des Festivals. Eine schöne Geste, und nebenher natürlich ein schöner PR-Coup.
Dolan hatte zwar schon als Kinder-Darsteller in TV und Kino geübt. Aber  sein Debütfilm I KILLED MY MOTHER (2009) überzeugte mit einer formalen und inhaltlichen Reife, die man keinem 19-Jährigen zutrauen würde. Das Drehbuch schrieb er im zarten Alter von 16. Sein neuester Film MOMMY (2014) ist eine Variation seines Debütfilms.

Diane („Die“) löst ihren 15-jährigen Sohn Steve aus einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche aus. Die Erzieherin hält das für keine gute Idee: „Liebe allein kann niemanden retten“ sagt sie. Die alleinerziehende Die tritt an, um das Gegenteil zu beweisen. Ohne Job, ohne Bildung und ohne Kindsvater kämpft sie für ihren Sohn, wenn auch mit unorthodoxen Mitteln. Steve ist hyperaktiv, ungefiltert emotional, manchmal gewalttätig und an der Grenze zur Kriminalität. Und kämpft seinerseits manisch für das Recht bei seiner Mutter sein zu dürfen. Als sich das exzentrische Gespann mit der bürgerlichen Nachbarin Kyla anfreundet, scheint das unmögliche Unterfangen plötzlich nicht mehr so unmöglich. Kyla ist ehemalige Lehrerin und scheint mit ihrer besonnenen, pädagogisch geschulten Art einen besonderen Draht zum schwierigen Steve zu entwickeln.

Das Szenario von MOMMY ähnelt bis hin zur Besetzung Dolans Debütfilm I KILLED MY MOTHER; es glänzen mittlerweile zu Dolans Stamm-Cast avancierte Schauspielerinnen. Die begnadete Anne Dorval verkörpert wieder die überforderte Mutter, die nicht minder strahlende Susanne Clément ihr vermeintlich gegensätzliches Spiegelbild, das eine Alternative aufzuzeigen scheint. Auch in I KILLED MY MOTHER war Clément eine sensible Lehrerin, bei der der schwierige Hubert Zuflucht vor seiner Mutter suchte. Nur den schwierigen Teenager spielt Xavier Dolan nicht mehr selbst, sondern der erstaunliche Newcomer Antoine-Olivier Pilon, der sich als Steve mit einer verblüffenden Körperlichkeit veräußert. Damit wäre einmal klargestellt: MOMMY ist großes Schauspielerkino, das alle Darsteller-Oscars dieser Welt verdient hätte (und als franko-kanadischer Film natürlich nicht bekommen wird).

MOMMY

MOMMY

In I KILLED MY MOTHER war die Geschichte des pubertierenden Hubert, der plötzlich alles an seiner ehemals heißgeliebten Mutter kategorisch ablehnt, nach Dolans eigener Auskunft noch semi-autobiografisch. Daraus machte er eine ungewöhnliche Coming-of-Age Geschichte, inklusive beiläufigem Coming-Out und erster Liebe. Weil I KILLED MY MOTHER natürlich kein Horror-Film ist, ist der Titel  sinnbildlich für adoleszente Emanzipation und das Erwachsen-Werden zu verstehen. Die autobiografische Nähe eines jungen Regisseurs zu seinem Thema kann leicht ins Auge gehen, führte aber in I KILLED MY MOTHER zu unvergleichlicher Authentizität. Das Thema der problematischen Mutterliebe geht Dolan nun in MOMMY dramatisch zugespitzter an und bringt es von einer eigenen Biografie weg; Steve behauptet einmal an ADHS („Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) zu leiden, genaue Rückschlüsse lässt das Drehbuch nicht zu. Der Konflikt mit der Mutter ist hier nicht nur pubertär, sondern viel grundsätzlicher und daher dringlicher. Es scheint fraglich, ob Steve überhaupt für sich selbst sorgen können wird. Das homosexuelle Coming-Out – ein Katalysator für den Entfremdungsprozess in I KILLED MY MOTHER ­­- fehlt in MOMMY komplett. Das wird in der Rezeption sicher hilfreich sein, wurde ersterer­ doch noch von vielen voreilig in das freudsche Eck „Homosexuelle und ihre Mütter“ gestellt. Nun mag es zum Teil stimmen, dass sich Dolan an seiner eigenen Mutterbeziehung abarbeitet. Doch offenbart MOMMY vor allem eine Figurenkostellation, die sich mittlerweile durch Dolans Werk durchzieht. In seinem LAURENCE ANYWAYS (2012) kämpfte ein heterosexuelles Paar mit aller Kraft für seine Liebe, obwohl er sich zu einer Geschlechtsumwandlung entschließt. In seinem SAG NICHT, WER DU BIST (2013) versuchte ein junger Mann die Liebe zu seinem verstorbenen Partner zu konservieren, indem er sie auf den Bruder des Toten projiziert. Und in HERZENBRECHER (2010) versucht ein Freundespaar die Freundschaft aufrecht zu erhalten, obwohl sich beide in denselben Mann verlieben. Gemeinsam haben all diese Figuren, dass sie gegen alle Widrigkeiten verzweifelt, inbrünstig und mit großer Selbstverständlichkeit für eine Liebe kämpfen, die bereits von Anfang an aussichtslos erscheint. Sie können gar nicht anders. Das macht die Schönheit von Dolans Charakteren aus, und die strahlen in MOMMY ganz besonders.

Denn Dolan konzentriert sich ganz auf die Dynamik zwischen seinen fein gezeichneten Charakteren, der auch die simple Plot-Entwicklung untergeordnet ist. MOMMY gleicht darin vor allem Dolans Geschlechtsumwandlungs-Drama LAURENCE ANYWAYS. Eingebettet sind seine Figuren in eine detailreiche Milieuzeichnung, die in I KILLED MY MOTHER noch kleinbürgerlich war und in MOMMY proletarisch ist. Das bildungsferne Umfeld zeigt Dolan liebevoll und nicht wertend, dennoch unterfüttert das Milieu subtil die Ausweglosigkeit seiner Figuren. In dieser rohen Authentizität hat MOMMY schon fast etwas von den neueren Filmen der Dardenne-Brüder. Aber es wäre nicht Xavier Dolan, wenn er nicht auch formal alle Register ziehen würde: Bereits in LAURENCE ANYWAYS hat er mit dem heute nicht mehr verwendeten Fernsehformat 4:3 experimentiert. MOMMY ist nun gleich im quadratischen 1:1-Format gedreht, in dem die Enge der Filmkader die Seelenlage der Figuren noch drängender macht. Doch damit nicht genug, Dolan reißt an wenigen, bezeichnenden Stellen unverschämter Weise mitten im Film das Format auf und wechselt auf das heute übliche breitwandige 16:9. Die formale Raffinesse, mit der das vonstatten geht, muss man unbedingt im Kino gesehen haben!

I KILLED MY MOTHER

I KILLED MY MOTHER

Bei Dolan schon traditionell, wartet natürlich auch MOMMY mit einem eklektischen Pop-Soundtrack auf und spielt die Songs fast immer komplett durch. Das nervt manchen Kritiker bis aufs Blut, der Vorwurf lautet Dolan würde seine Filme zukleistern und mangelnde emotionale Tiefe von der Musik borgen. Aber das Stilmittel ist in Post-Musikvideozeiten nun wirklich nicht mehr neu und ärgert bezeichnenderweise dieselben Kritiker bei Quentin Tarantino viel weniger. Vielleicht liegt es daran, dass es Dolan nicht nur David Bowie verwendet (wie Tarantino in dieser großartigen Szene in INGLORIOUS BASTERDS), sondern gerne auch mal Celine Dion. Eine gewisse Offenheit für die Coolness des Camp muss man bei Dolan schon mitbringen. Auch für MOMMY gräbt er so einiges aus, was schon in den 90er Jahren peinlich war, um seine surrealen Einschübe musikalisch zu verstärken – Eiffel 66? Dido? Celine Dion? What the fuck! Dafür fehlt bei Dolan das immer noch so oft übliche „Mickey Mousing“ komplett, der ständig dezent im Hintergrund klimpernde, eigens komponierte Soundtrack, der Emotionen subtil verstärken soll. Die Kritiker dürfen sich beruhigen: In Mommy bleibt der Einsatz der Musik vergleichsweise subtil, da sie oft einen szenischen Ursprung aus dem Radio oder aus der Karaoke-Box hat, statt einfach nur über die Bilder gekleistert zu sein. Es ist auch nicht schwer vorstellbar, dass ein Junge in den 90ern wie Steve eben Eiffel66 hört. Auch die Kostüme (wieder: 90er Jahre!) hat Dolan, wie in jedem seiner Filme seit HEARTBREAKERS selbst gemacht. Es ist alles da, was einen Dolan-Film stilistisch ausmacht, auch wenn die formale Spielerei, bis auf den Formatwechsel, im Vergleich zu seinem bisherigen Werk recht zurückhaltend bleibt.

Schon seinen Debütfilm  KILLED MY MOTHER hat Dolan trotz des adoleszenten Themas  mit eigenwilliger Stilsicherheit präsentiert. Der Film montierte mit fast kindlicher Freude alle Kunstformen aus dem bildungsbürgerlichen Hausrat zusammen: Musik von Bach bis Schlager, Gedichte als Textinserts, das an die Fotografie angelehnte Tableau Vivant (gerne im Stil von Pierre et Gilles), „Selfies“ mit der Videokamera, sogar die Live-Entstehung eines Schüttbildes fand darin einen Platz. Mit diesen geborgten Versatzstücken etablierte Dolan einen fast postmodernen Gestus, plus Retro und minus Ironie. Vor allem mit seinem zweiten Film HERZENSBRECHER trieb er dieses Spiel bis zum Exzess. HERZENSBRECHER funkelt nur so vor endlosen Zeitlupen, exzentrischen Ausleuchtungen, zuckerlbunten Kostümen und haarsträubenden Frisuren verschiedenster Epochen und Stile. Garniert mit einem Augenzwinkern an seine großen Vorbilder, ein bisschen Wong Kar-Wai hier, eine Prise Godard da, in guter, alter postmoderner Manier. Damit wurde HERZENSBRECHER zwar zu einem Lieblingsfilm der Hipsterbewegung und hat Dolan wohl auch einen Platz im Popuniversum gesichert. Der Triumph der Form über die (ebenfalls geborgten) inhaltlichen Themen des französischen Autorenkinos, Amour Fou und Ménage à trois, ist aber sicher nicht jedermanns Sache.

HERZENSBRECHER

HERZENSBRECHER

Doch Dolans Vorliebe für die Form hat auch einige seiner besten Film-Momente hervorgebracht. Denn seine Arbeiten sind (vielleicht mit Ausnahme von HERZENSBRECHER) trotzdem keine hochstilisierten Übungen in Filmästhetik. Kamerafahrten und sind bei ihm selten, Choreografien á la Max Ophüls sucht man vergeblich. Dialoge löst er dafür gerne in langen, statischen Einstellungen ohne Schnitt auf oder lässt die Figuren in den Schuss-, Gegenschuss-Einstellungen fast aus dem Bild fallen. Das bevorzugte Mittel für diese Szenen ist die Handkamera. Doch diese rohen Dialogszenen wechseln sich mit surrealen Einschüben ab. Das sind traumhafte Sequenzen, absurde Tableaux Vivants, oder stilisierte Bewegungen in Zeitlupe oder grellem Licht, die das Geschehen emotional verdichten. Unvergesslich ist etwa die Szene in LAURENCE ANYWAYS, in der das wiedervereinte Liebespaar in der schwarz-weißen Landschaft der „Isle of Black“ spazieren geht, während es in Zeitlupe knallbunte Klamotten regnet. Oder die vielen Szenen in verschiednen Filmen in denen sich Zeitlupe und Zeitraffer hart abwechseln, natürlich mit Pop-Soundtrack unterlegt. Auch ungewöhnliche Lichtverhältnisse mag Dolan sehr gerne. Wenn er in den Zauberkasten greift, kann das schon ziemlich Spaß machen.

LAURENCE ANYWAYS

LAURENCE ANYWAYS

In jeder Faser von Dolans Filmen ist Dolan selbst zu spüren. Das hat etwas narzisstisches, aber seine Filme stellen daher auch die Elemente eines Films aus, statt sie zu verschleiern. Sie sind, wie Fassbinders Filme, auch immer ein wenig Filme über das Filmemachen. Nicht nur wegen seines Arbeitstempos (zuletzt zwei Filme pro Jahr) wird Dolan gerne mit Rainer Werner Fassbinder verglichen. Es bleibt zu hoffen, dass er weniger Drogen nimmt und sich nicht wie dieser früh zu Tode schuftet. Auch wenn Fassbinder einen viel nüchterneren Stil hatte, setzte auch er gerne verschiedene Medien und Kunstformen seiner Zeit ein, um formal seinen eigenen Film zu kommentieren. Dolans vorletzter Film, die Theater-Verfilmung SAG NICHT, WER DU BIST, ist ein Thriller-Planspiel um eine sadomasochistische Beziehung, das gerade seine durch seine reißbrett-artige Struktur eine große Faszination entwickelt. Der Film funktioniert daher vor allem auf einer intellektuellen Ebene; Dolan dabei zuzusehen, wie er seinen Stil einem Genrekorsett überstülpt.

Vielleicht beruht der Kurzschluss Fassbinder-Dolan aber auch nur darauf, dass beide homosexuelle Filmemacher sind. Dolan mag mit einigen schwulen Starregisseuren der Filmgeschichte den Hang zum Manierismus, zur Maskerade und zum doppelten Boden teilen. Aber man braucht nur einen Film von Kubrick oder Terrence Malick anzusehen, um festzustellen, dass Schwule den Manierismus nicht gepachtet haben. Andererseits sind manche schwule Regisseure wie Gus Van Sant so weit vom Manierismus entfernt wie Vladimir Putin vom Friedensnobelpreis. Xavier Dolan auf den Aspekt des Queer Cinema zu reduzieren, wäre idiotisch. Trotzdem tragen seine Filme natürlich viel zur Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit von homosexuellen und queeren Figuren im Kino bei, auch wenn sie sich nie darauf konzentrieren. Das Coming-Out in I KILLED MY MOTHER mündet schließlich in einer der schönsten schwulen (erster) Sex-Szenen, wie man sie in dieser beiläufigen Selbstverständlichkeit noch nicht so oft gesehen hat. Die Geschlechtsumwandlung in LAURENCE ANYWAYS wird zwar sehr wohl auch über die Genderthematik verhandelt, ist aber vor allem exemplarisch für eine allgemeine Veränderung der Charaktere. Und die Homosexualität der Hauptfigur in Dolans vorletztem Film SAG NICHT, WER DU BIST ist nur insofern ein Problem, als sie ein Problem für die Gesellschaft des Films darstellt, aber nicht Thema des Films.

I KILLED MY MOTHER

I KILLED MY MOTHER

Das Auffälligste an Dolans Gesamtwerk ist sicher der Zuckerguss, das Blendwerk. Doch das Spannendste ist das wechselnde Verhältnis von Form zu Inhalt, das je nach Film in einem sehr unterschiedlichen Gleichgewicht ausfällt. Mit Filmen wie I KILLED MY MOTHER und LAURENCE ANYWAYS bewies er außergewöhnliches Talent für Charaktere und Dialoge. Mit HERZENBRECHER spielte er seine Trademarks bis zum Exzess durch und mit SAG NICHT, WER DU BIST hat er ein formales Experiment gewagt, das vor allem intellektuell zu faszinieren vermochte. Doch der neueste Film MOMMY ist auch fürs Herz. Vielleicht macht auch Xavier Dolan immer abwechselnd einen Film für die Kritiker und einen für sich selbst, das Ergebnis wird nicht immer jedem gefallen. Doch Dolan hält es mit seinen Geschichten sehr direkt und simpel, und kann im besten Fall – wie bei MOMMY – gerade dadurch eine große Komplexität erreichen. Gleichzeitig bleibt er formal wagemutig und seine Trickkiste ist bodenlos. Gerade hat er den Schritt nach Hollywood gemacht und dreht demnächst mit Jessica Chastain und Kit Harington. Der sich im Grabe warnend räuspernde Fassbinder möge schweigen. Xavier Dolan ist sicher einer der spannendsten Filmemacher derzeit und er ist glücklicherweise erst 25. Da kommt sicher noch viel, worüber man sich aufregen kann, und viel, das man lieben kann.

Trailer hier ansehen.